Agile

Das agile Mindset

Darauf kommt es an in der agilen Transformation – oder etwa nicht?

Artur Strasser
Dr. Artur Strasser

Managing Consultant

14.08.2020 Lesedauer ca. 13 Min.

Vor kurzem saß ich mit Peter, einer leitenden Führungskraft einer Bank, beim Mittagessen und er fragte mich: Artur, können wir mit dem Mindset in unserer Firma überhaupt agil werden? Oder müssen wir erst unser Mindset ändern? Ich blickte auf, denn er hatte eine der Kernfragen auf den Kopf getroffen. Er stellte ganz präzise die Kernfrage, die am Anfang eines Weges schwer zu beantworten ist. Und dass er nach dem „wie wir agil werden“ fragte, machte die Antwort nicht leichter. Die „Berater:innenantwort“ lautete nun: Jede einzelne Person im Unternehmen braucht seinen eigenen Weg und eigene innere Entscheidungen, um in agilen Arbeitsformen mit Freude und Spaß einen eigenen Beitrag zu erbringen. OK, und was heißt das nun konkret? Diese Frage möchte ich nachfolgend diskutieren und beantworten. Doch gehen wir erstmal einen Schritt zurück und schauen in die Vergangenheit.

Die gemeinsame Basis agiler Rahmenwerke

In 2001 traf sich eine Gruppe von 17 Personen in einer Skihütte in Utah. Neben Skifahren und Relaxen stand auch ein Austausch auf dem Programm. Dieser hatte zum Ziel, eine Alternative zum schwerwichtigeren Softwareentwicklungsprozess zu finden sowie eine gemeinsame Basis zu schaffen. Die 17 Teilnehmenden repräsentierten die Rahmenwerke Extreme Programming, Scrum, DSDM, Adaptive Software Development, Crystal, Feature-Driven Development und Pragmatic Programming und nannten sich die „Agile Alliance“ (vgl. Highsmith, 2001). Das Ergebnis des gemeinsamen Skiausflugs in Utah war das Agile Manifest für Softwareentwicklung. Es besteht aus 4 Werten und 12 Prinzipien und bildet die Basis für die agile Softwareentwicklung (siehe Abbildung 1).

Die 4 Werte und 12 Prinzipen des agilen Manifests
Abbildung 1: Die 4 Werte und 12 Prinzipen des agilen Manifests

Alle Rahmenwerke wie Scrum oder Extreme Programming bauen auf diesen agilen Werten und Prinzipien auf. Nun besteht das agile Manifest mittlerweile fast 20 Jahre und Rahmenwerke wie Scrum oder Kanban werden von vielen Unternehmen schrittweise sowohl innerhalb als auch außerhalb der Softwareentwicklung eingesetzt. Beim Einsatz dieser Rahmenwerke kommen Prinzipien wie die Selbstorganisation von Teams und die Dezentralisierung von Entscheidungen zum Tragen. Ebenfalls werden klassische Organisationsprinzipien der zentralen Steuerung durch Führungskräfte häufig schrittweise hinterfragt. Sollte dann der Wunsch entstehen, vermehrt agile Rahmenwerke einzusetzen, so beginnt oftmals eine sogenannte „agile Transformation“. Unter diesem Buzzword wird die schrittweise oder unmittelbare Zunahme des Einsatzes agiler Praktiken verstanden. An diesem Punkt ist einer der ersten Ansätze, um Widerstände abzubauen und eine Gefolgschaft von Anhängern aufzubauen, das sogenannte „Agile Mindset“ zu verbreiten. Wer das agile Mindset versteht, verinnerlicht, nach Außen verkörpert und lebt, kann dazu beitragen, dass das gesamte Unternehmen neue Wege beschreitet, enorme Erfolge mittels agiler Praktiken erzielt und den bestehenden und neuen Kund:innen einen hohen Mehrwert liefert. So lautet das Versprechen vieler agiler Coaches, Berater:innen, Change Agents, usw. Diese Hypothese möchte ich auf den Prüfstand stellen und nachfolgend reflektieren.

Wenn „die" nur das Agile Mindset hätten

Unter dem Begriff „Mindset" wird die Art und Weise wie Menschen denken und handeln verstanden. Generell gibt es kein richtiges oder falsches Mindset. Es ist entweder passend zum Kontext und zur Situation oder eben nicht. Das agile Mindset basiert auf Werten, die als Orientierungsrahmen das Denken und Handeln bestimmen sollen (vgl. Hofert, 2018, S.3ff.). Es soll ein generelles Umdenken in den Köpfen der Mitarbeiter:innen erzeugen und ein stabiles Wertesystem schaffen. Die zentrale Frage lautet daher scheinbar: “Bringen die Mitarbeiter:innen einer Organisation die passende Denkweise und eine entsprechend förderliche Haltung für Agilität mit?” Diese Frage würden viele Unternehmen, die am Anfang einer langen Transformationsreise stehen, sicherlich häufig mit Nein beantworten. Aber „der Weg ist ja das Ziel" – von daher lässt sich das agile Mindset sicherlich aufbauen, verändern, prägen?

Hilfe dafür bieten z. B. Weiterbildungen und Schulungen. Seit kurzem wird der Weiterbildungslehrgang „Agile Mindsetter (IHK)" angeboten. „Mit dem Zertifikatslehrgang Agile:r Mindsetter:in (IHK) erlernen Sie die Prinzipien, Methoden und Vorgehensweisen, um Agilität und Agilen Mindset unternehmensweit im Arbeitsalltag einzuführen und zu verankern. Individuell und in Respekt zu den handelnden Personen und den jeweiligen Aufgaben (IHK-Köln, 2020)." Inkludiert sind zudem psychologische Grundlagen zur Stimulierung des „Agilen Mindset“.

Für mich klingen die zuvor beschriebenen Herangehensweisen eindeutig nach Gehirnwäsche und Beeinflussung. Das Denken und die Haltung anderer beeinflussen zu wollen, halte ich für unethisch und im Unternehmenskontext als vollkommen sinnfrei. Schließlich fördern erfolgreiche Unternehmen Diversität und stellen sie auf ihrer Website und in Stellenanzeigen bewusst dar. Wieso entsteht nun der Drang nach einem gemeinsamen agilen Mindset, um die große agile Transformation anzukurbeln und alle Mitarbeiter:innen mit einem einheitlichen Wertesystem ins Rennen zu schicken? Eine mögliche Antwort darauf ist der Wunsch nach einer tiefgreifenden Veränderung. Schließlich muss oder möchte sich das Unternehmen verändern und alle sollen mitziehen. Agilität scheint der richtige Weg zu sein und ist enorm wichtig um Themen wie die Digitalisierung umzusetzen und sich gegen Konkurrenz durchsetzen zu können. Von daher erscheint der Wunsch verständlich, allen ein stabiles Grundgerüst auf den Weg zu geben. Dieses Grundgerüst bilden häufig agile Werte. Sie verdeutlichen das Fundament, das worauf es wirklich ankommt und alles Aufbauende basiert. Dies sind am Beispiel Scrum erklärt die Werte Commitment, Offenheit, Fokus, Mut und Respekt. Diese Werte helfen dabei, die Warum-Frage zu beantworten: „Warum soll ich nun etwas so machen und nicht mehr wie vorher". Generell fällt uns das Handeln häufig leichter, wenn ein sinnstiftender Grund dahintersteht.

Auf die Handlungen kommt es an!

Von daher erscheint es doch simpel: Sobald das agile Mindset und die dahinterstehenden Werte verstanden und akzeptiert wurden, kann die entsprechende Handlung folgen. Leider vollkommen falsch. Psychologische Erkenntnisse und Erfahrungswerte aus der Praxis zeigen, dass es bei Veränderungsprozessen vielmehr auf authentische Handlungen ankommt. Lässt sich eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter auf neue Handlungen und Verhaltensweisen ein und verspürt dabei einen positiven Reiz, so bewirkt dies, dass dieses Verhalten häufiger gezeigt wird. Demnach beeinflusst das Handeln das Denken und die Haltung in Veränderungsprozessen.

Ein Beispiel dazu: Ich kann den Wert „Offenheit" durch Aushänge im Gebäude, Leitsätze auf Bildschirmschonern, usw. propagieren und Mitarbeiter:innen bitten, sich von nun an auf neue Praktiken einzulassen, diese auszuprobieren und nicht sofort abzublocken. Schließlich ist Offenheit nun ein wichtiger Wert des Unternehmens. Oder ich handele und gehe mit gutem Beispiel voran und kommuniziere offen über meine Herausforderungen im Projekt und bitte frühzeitig um Unterstützung. Wenn mir Letzteres gelingt und ein positiver Reiz entsteht („Wow, das Projekt läuft nun wieder und viele haben geholfen dabei“) entwickelt sich dadurch womöglich eine generelle Offenheit im Unternehmen und Offenheit entwickelt sich zu einem wichtigen Wert des Unternehmens.

Ein zweites Beispiel dazu auf persönlicher Ebene: Haben Sie sich schon mal vorgenommen mutiger zu sein? Wie agiert man, wenn Mut ein Wert (auch unabhängig von Agilität) eines Einzelnen darstellen soll? Ich kann diese Frage nicht beantworten, jedoch würde ich eher Handlungen in meine tägliche Praxis integrieren, die Mut erfordern. Z. B. beim nächsten Meeting werde ich mich definitiv einbringen und meine Meinung äußern, auch wenn sie der Meinung anderer entgegensteht. Oder ich wähle bewusst den schwierigeren Weg und wechsele in eine Abteilung, in der ich niemanden kenne und mich vollkommen neu einarbeiten muss, statt in meinem gewohnten Umfeld weiter zu arbeiten. Beide Handlungen können einen positiven Reiz bewirken („gut, dass ich diesen Punkt eingebracht habe im Meeting“ oder „ich habe mich nun wirklich deutlich weiterentwickelt und fühle mich viel wohler in der neuen Abteilung“) und dazu führen, schrittweise mutiger zu werden und diesen Wert als eigenen Wert zu verinnerlichen.

Und was rate ich Peter nun?

Ein wichtiger erster Schritt ist, den Rahmen innerhalb der Organisation zu schaffen, um agile Praktiken anzuwenden und positive Reize zu ermöglichen. Dies erfordert den Mut, den ersten Schritt zu gehen. Dies beinhaltet das Angebot an die Mitarbeiter:innen, sich mitentwickeln zu können. Am Anfang der Reise steht individuelles Lernen im Fokus, anschließend verlagert sich das Lernen auf die Teamebene und die Schnittstellen zwischen den Teams. Generell plädiere ich dafür, Agilität anzuwenden und aus den Handlungen zu lernen. Ein erster Schritt in eine agile Transformation ist daher kein Kulturprogramm, um allen Mitarbeiter:innen das agile Wertesystem einzuimpfen, sondern die Förderung eines klaren Verständnissen über die Möglichkeiten und Grenzen der Agilität (siehe Abbildung 2, Step 1: Initial).

Der Transformationsprozess
Abbildung 2: Der Transformationsprozess

Sollten agile Praktiken sinnvoll für den Unternehmenskontext sein, so geht es an die Vorbereitung und Umsetzung von agilen Handlungen sowie dem Lernen aus dem täglich Erlebten. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter wird sich dann mit den eigenen Denk- und Verhaltensweisen einbringen – und das ist auch gut so. Ein:e agile Coach kann hier unterstützen, die Kultur einer Organisation messen, sie deutlich machen und immer wieder anregen am System zu arbeiten. Wir nutzen hierfür zu Beginn ein eigens entwickeltes Reifegradmodell und führen ein Agile Review durch. Anschließend wird gemeinsam ein Backlog aufgebaut sowie ein agiles Transitionsteam bestehend aus Mitarbeiter:innen und Führungskräften des Kunden gegründet. Das Transitionsteam arbeitet gemeinsam an den identifizierten Themenfeldern, um agile Praktiken im Unternehmen zielführend einsetzen zu können. Generell bestehen bei der Einführung von agilen Praktiken einige Herausforderungen (siehe Artikel „Herausforderungen bei der Einführung von Scrum“). Feedback sowie Retrospektiven spielen auf dem anschließenden Weg eine zentrale Rolle und werden regelmäßig eingesetzt und durchgeführt.

Fazit

Eine Veränderung durch ein Kulturprogramm oder Massenschulungen, um das agile Mindset zu fördern und es einheitlich von allen Mitarbeiter:innen einzufordern, funktioniert meiner Erfahrung nach nicht. Ohne vorherige Analyse der Voraussetzungen ist das aus meiner Sicht vorschnell geurteilt, denn an dieser Stelle haben (meist Führungskräfte) kein Vertrauen in ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und sind nicht mutig genug, um sich der Herausforderung zu stellen. Veränderung erzeugt Unbehagen und man verlässt die Wohlfühlzone – dies ist kein einfacher, aber ein häufig lohnenswerter Schritt. An dieser Stelle haben agile Rahmenwerke, wie Scrum, Kanban, Design Thinking und weitere ihre Stärken. Sie sind einfach und schnell erklärt, lassen sich direkt anwenden und liefern zügig Ergebnisse. Von daher ist es doch viel ratsamer, gemeinsam anzupacken und diese Werkzeuge sinnvoll für den Unternehmenskontext einzusetzen. Hierfür stehen direkte Handlungen im Fokus, die positive Reize setzen können. Gelingt dies auf dem Weg der agilen Transformation, so entwickeln sich bestimmte Werte und werden authentisch nach innen und außen gelebt.

Sprechen Sie uns an, wir können gerne mit Ihnen untersuchen, ob eine Transformation für Sie möglich und sinnvoll ist.

Quellen

Über Artur Strasser

Artur Strasser
Dr. Artur Strasser

Managing Consultant, Agile Coach bei der frobese GmbH | Geschäftsführer bei der frobese it-akademie GmbH